Spätestens seit dem Vorliegen des Handels- und Kooperationsabkommens Grossbritanniens mit der EU als Alternative steht die Schweiz an einem Scheideweg. Die Schweizer Politik muss sich in der Diskussion um das Institutionelle Rahmenabkommen zuerst klar entscheiden, welches Verhältnis zur EU sie künftig will: Eine gleichberechtigte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt oder lediglich Freihandel mit beschränktem Marktzugang. Die Frage nach dem Abkommen kommt danach.
Autor: Georges Baur
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Nach der Ablehnung der Begrenzungsinitiative (BGI) der SVP in der Volksabstimmung vom 27. September 2020 haben die Medien in ihrer Mehrzahl sowie einige Politiker und Politikerinnen von einer Schlappe für die SVP und einer Bestätigung des bilateralen Wegs gesprochen. Allerdings könnten sich diese Stimmen zu früh gefreut haben.
Seit November 2018 liegt ein Entwurf für ein Institutionelles Rahmenabkommen (InstA) zwischen der Schweiz und der EU vor. Dieses ist seit seiner Veröffentlichung umstritten, wobei einmal die institutionellen Regelungen wie z. B. die künftige Rolle des EuGH oder die dynamische Rechtsübernahme und ein anderes Mal materielle Aspekte wie die künftige Regelung staatlicher Beihilfen oder der Lohnschutz zu reden geben. Ende 2020 haben nun die EU und das Vereinigte Königreich ein Handelsabkommen (TCA) abgeschlossen. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um ein Freihandelsabkommen. Dieses kommt, allerdings nur für England, Schottland und Wales, sachgerecht, ohne direkten Bezug zum EU-Recht und demgemäss ohne Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus. In der Folge überboten sich Schweizer Politiker und Politikerinnen sowie Interessenvertreter und Interessenvertreterinnen in Forderungen, dies müsse man in (Nach-)Verhandlungen mit der EU auch erreichen. Derzeit wird vermehrt ein «Übungsabbruch» verlangt, also dass das InstA weder nachverhandelt noch ratifiziert werden solle.
«Souveränität» als Stolperstein
Ein Teil der Schweizer Politik stellt damit wohl das InstA – so wie es derzeit als Entwurf vorliegt – prinzipiell infrage und begibt sich damit wieder zurück an den Anfang der Verhandlungen mit der EU, wenn sie solche mittlerweile nicht überhaupt ablehnt. Es scheint deshalb angezeigt, einen Schritt zurück zu machen und sich zu fragen, woran die Diskussion über das InstA, den konkreten Entwurf und die Beziehung zur EU eigentlich krankt. Dass ein bestimmtes Verständnis von Souveränität Urständ feiert und dass das InstA ganz allgemein immer noch derart umstritten ist, weist darauf hin, dass es hier um Grundsätzliches geht und nicht um ein paar materielle Bestimmungen, die noch zu «präzisieren» sind. Dabei geht es um zwei elementare Punkte, die bislang in der schweizerischen Diskussion zu wenig Beachtung finden:
Erstens ist festzustellen, dass sich die schweizerische europapolitische Diskussion weitgehend in Spiegelfechterei erschöpft. Das heisst, die Schweiz diskutiert im Wesentlichen mit sich selbst, quasi eine dauerhafte «Arena»-Sendung des Schweizer Fernsehens im Grossen, als ob es da keinen Vertragspartner gäbe, dessen Interessen, aber vor allem Einschränkungen vielleicht auch zu berücksichtigen wären. So beklagte alt Botschafter Paul Widmer in einem Radiointerview am Dienstag nach der Abstimmung über die BGI, dass man die Schweizer Verhältnisse in Brüssel nicht kenne. Kennt aber die schweizerische politische Elite die EU und die rechtlichen Vorgaben, an die sie gebunden ist?
Die Teilnahme am Binnenmarkt verlangt gemeinsame Regeln für alle Teilnehmenden
Die EU ist ein komplexes Gebilde, das überstaatlich verfasst ist und sich (trotz einiger Defizite und innerer Widersprüche) als Gemeinschaft des Rechts versteht. Die EU ist aber kein Staat und hat von ihren Mitgliedstaaten deren Souveränität nur zum Teil übertragen erhalten. Soweit dies aber geschehen ist, muss sie die ihr übertragene Souveränität ihrer Mitgliedstaaten als ihre Autonomie gegenüber Aussenstehenden schützen. Dennoch ermöglicht sie es nahestehenden Nichtmitgliedern, an ihrem Binnenmarkt teilzunehmen. Sie können wie Passivmitglieder in einem Verein von dessen Leistungen gegen einen etwas günstigeren Vereinsbeitrag profitieren. Natürlich verlangt die EU, dass sich auch die Passivmitglieder an ihr Regelwerk halten. Um das Funktionieren des Binnenmarktes zu garantieren, braucht es eben Institutionen, wie Aufsichtsbehörden oder ein Gericht. Wegen des erwähnten Schutzes der Autonomie ist es ihr rechtlich nicht möglich, die Beurteilung dieses Regelwerks aus der Hand zu geben. Die Interpretation von EU-Recht, soweit es Teil dieses Regelwerks ist, unterliegt deshalb auch in einem Abkommen mit Aussenstehenden dem EuGH. In der Schweiz gilt dagegen, vereinfacht gesagt, der Primat der Politik, also die Auffassung: Mit politischem Willen und etwas Pragmatismus kann man alles, auch das Recht, nach Belieben anpassen.
Marktteilnahme ist nicht gleich Marktzugang
Zweitens scheint in der schweizerischen Diskussion ein zentraler Punkt immer noch zu wenig Beachtung zu finden: Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Teilnahme am EU-Binnenmarkt, sei es auch nur eine auf einzelne Sektoren beschränkte, und einem konventionellen Marktzugang zum Beispiel aufgrund eines Freihandelsabkommens.
Ausser der SVP möchte die Mehrheit der schweizerischen Politik an einer – wenn auch beschränkten – Teilnahme am Binnenmarkt festhalten. Wo die Binnenmarktabkommen gelten, können Schweizer Unternehmen und Bürger am Binnenmarkt der EU zu den gleichen Bedingungen teilnehmen wie Unternehmen und Bürger der EU – und umgekehrt. Der Preis dafür ist die Übernahme der Regeln des Binnenmarktes, teilweise eine Harmonisierung und bis zu einem gewissen Grad eine Zuständigkeit des EuGHs. Im zweiten Fall gewähren sich die Schweiz und die EU lediglich einen erleichterten Zugang zum jeweils anderen Markt. Aber es gibt keine gleichberechtigte, rechtlich abgesicherte Teilnahme der Schweizer Unternehmen und Bürger am Binnenmarkt der EU. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Nur wenn die Schweiz auf eine Teilnahme am EU-Binnenmarkt verzichtet, kann sie überhaupt «auf Augenhöhe» verhandeln.
Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über die Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt werden also durch zwei Grundprobleme erschwert: Zum einen befinden sich die Verhandlungspartner nicht auf derselben Diskussionsebene. Die schweizerische ist politisch, jene der EU ist rechtlich. Zum anderen ist die eingangs erwähnte schweizerische Vorstellung von Souveränität mit dem EU-Prinzip der Autonomie ihrer Rechtsordnung inkompatibel. Diese Unverträglichkeit konnte bei den Bilateralen Abkommen I und II noch einigermassen übertüncht werden, weil für diese keine übergeordneten Institutionen bestehen. Sobald diese eingeführt werden sollen, kommt der Tag der Wahrheit: Wenn man ehrlich ist, lässt sich hier kein Kompromiss finden. Da können die Schweizer Diplomaten verhandeln, so viel und so hart sie wollen. Aus diesem Grund wäre es konsequent zu sagen, dass man das Projekt der Teilnahme am Binnenmarkt aufgibt. In dieser Hinsicht hat, ob einem dies nun passt oder nicht, nur die SVP eine klare Position.
Weiterwursteln wie bisher ist nicht möglich
Nimmt man die Verlautbarungen der EU bezüglich ihrer künftigen Beziehungen zur Schweiz ernst, so ist der Status quo für sie keine Option: Die Bilateralen Abkommen in ihrer heutigen Form werden mittelfristig erodieren. Die EU wird als erstes wohl keine Hand dazu bieten, das Abkommen über die Anerkennung von Konformitätsnachweisen für Medizinalprodukte zu aktualisieren. Dies wird sich fortsetzen, bis von der Substanz der Abkommen nichts mehr übrig ist. Aus Sicht der EU erscheint dies konsequent, denn die Schweiz verweigert ihrerseits unter anderem eine Anpassung des Freizügigkeitsabkommens und will zu einer Lösung, die aus Sicht der EU Rechtssicherheit und Gleichbehandlung garantiert, nämlich dem InstA, keine Hand bieten.
Was bleibt dann noch? Eine Teilnahme an den EFTA-Institutionen (mit eigener Aufsichtsbehörde und eigenem Gerichtshof) wurde von der Schweiz frühzeitig ausgeschlossen. Vielleicht müsste man folglich die Idee einer Revision des Freihandelsabkommens von 1972 wieder aufnehmen oder versuchen, ein neues, umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU zu verhandeln. Der Preis dafür ist bekannt: In seiner Antwort auf ein Postulat der heutigen Justizministerin Karin Keller-Sutter hat der Bundesrat 2015 auf etwas über 80 Seiten eine ausführliche Antwort auf die Frage gegeben, was in den jeweiligen Marktbereichen gälte, wenn man die Bilateralen Abkommen durch ein umfassendes Freihandelsabkommen ersetzen würde. Ein teilweise erheblicher Rückschritt in den wirtschaftlichen Beziehungen und im Zugang zum EU-Binnenmarkt, verbunden mit höheren Kosten für die Industrie, müssten in Kauf genommen werden. Wenn sie die wichtigen Berichte des Bundesrats gelesen haben, sollte dies Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Verbänden bekannt sein. Konsequenterweise müssten sie, wenn sie die Bedingungen für die (partielle) Teilnahme am Binnenmarkt für unzumutbar halten, die Folgen eines Ersatzes der Bilateralen Abkommen für verschmerzbar halten.
Dass der Austritt aus dem Binnenmarkt etwas kostet, haben in den letzten Jahren verschiedene wissenschaftliche Studien sowohl für die Schweiz als auch für Grossbritannien aufgezeigt. Selbst britische Regierungsstellen rechneten wegen des Austritts bis 2030 mit einem um 4,8 bis 6,2 Prozent geringeren Bruttoinlandprodukt. Das sind ca. 150 Milliarden Pfund. Bekanntermassen findet jedoch alt Bundesrat Christoph Blocher, dass der Wert der Bilateralen Abkommen massiv überschätzt werde. Es muss letztlich jedem bzw. jeder Einzelnen überlassen werden, welche Argumente mehr überzeugen. Sollten die Bilateralen Abkommen durch ein umfassendes Freihandelsabkommen ersetzt werden, wären eine Personenfreizügigkeit, wie wir sie heute kennen, oder die sog. Kohäsionsmilliarde natürlich obsolet. Die SVP hätte dann mithilfe der meisten anderen Parteien und Interessenverbände ihr Ziel doch noch erreicht.
Ersatz der Bilateralen Abkommen durch ein Freihandelsabkommen?
Bleibt einzig abzuwarten, ob die EU bereit ist, mit der Schweiz als wirtschaftlich bedeutendem, stark integriertem und geografisch unmittelbar angrenzendem Nachbarn ein derart umfassendes Freihandelsabkommen zu schliessen. Dies scheint möglich und mittlerweile ist auch das Präjudiz dafür gesetzt: Massstab für ein solches (umfassendes) Freihandelsabkommen dürfte inskünftig das zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich abgeschlossene TCA sein.
All dies führt zu folgendem Schluss: Die Schweizer Politikerinnen und Politiker stehen in der Verantwortung, sich bald einmal grundsätzlich zu entscheiden, wie sie die künftigen Beziehungen zur EU gestalten wollen. Bevorzugen sie eine (sektorielle) Beteiligung am Binnenmarkt oder ein Freihandelsabkommen? Daraus ergeben sich dann die weiteren Schritte. Die entsprechende Wahl – welche auch immer – müssen sie der Bevölkerung erklären können, und zwar «en connaissance de cause» und mit überzeugenden Argumenten, nicht mit flotten – und zumeist falschen – Werbesprüchen à la Boris Johnson.
Autor
Dr. Georges Baur, Forschungsbeauftragter Recht, Liechtenstein-Institut
Zitierhinweis
Baur, Georges (2021): Schweiz–EU: (sektorielle) Teilnahme am Binnenmarkt oder Freihandel? Blog. EFTA-Studies.org.
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