Man kann gar nicht genug über das institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und der EU diskutieren, ist doch die Entscheidung dafür oder dagegen eine der wichtigsten, die Bundesrat, Parlament und letztlich die Stimmbevölkerung in der Schweiz in naher Zukunft zu fällen haben. Dieser Beitrag zeigt auf, wie der vorliegende Abkommensentwurf aus Sicht der empirischen politikwissenschaftlichen Forschung zu beurteilen ist.
Autorin: Sabine Jenni
Warum ist die Entscheidung über das institutionelle Rahmenabkommen wichtig?
Die fünf Abkommen, welche gemäss Entwurf unter das institutionelle Abkommen (InstA) fallen würden, verschaffen Schweizer Bürger*innen und Unternehmen weitreichenden Zugang zum EU-Markt. Die EU ist heute der wichtigste Markt für die Schweiz. Da die EU die Regeln für diesen Markt bestimmt, braucht die Schweiz Vereinbarungen mit der EU. Vereinbarungen mit einzelnen EU-Ländern sind nicht möglich.
Die wichtigsten Abkommen für diesen Marktzugang sind neben dem Freihandelsabkommen von 1972 die fünf Abkommen der Bilateralen I, welche unter das InstA fallen würden. Der Marktzugang der Schweiz reicht heute bedeutend weiter, als es ein Freihandelsabkommen ermöglichen würde. Dies gilt auch für ein modernes Freihandelsabkommen wie beispielsweise das Abkommen zwischen der EU und Kanada von 2017.
Die Entscheidung über das InstA ist wichtig, weil die EU den Abschluss eines InstA seit zehn Jahren zur Bedingung für die Aufrechterhaltung des Marktzugangs mit bilateralen Verträgen macht. Seitdem hat die EU kein neues Marktzugangsabkommen mit der Schweiz unterzeichnet und manchmal sogar Aktualisierungen bestehender Verträge verzögert, was deren Nutzen beeinträchtigte (bspw. die Aktualisierung des Abkommens über technische Handelshemmnisse im Sommer 2017.
Eine Entscheidung für ein institutionelles Abkommen würde den bilateralen Weg konsolidieren, eine Entscheidung dagegen diesen Weg in Frage stellen.
Was sind die Alternativen zu einem InstA?
Mit den bilateralen Verträgen ist die Schweiz heute das Nicht-Mitgliedsland der EU, welches gemessen an ihrer politischen Unabhängigkeit den weitreichendsten und am stärksten massgeschneiderten Zugang zum EU-Markt hat.
Ein Szenario ohne InstA könnte eine Einschränkung dieses Marktzugangs bedeuten, ohne die massgeschneiderten Lösungen notwendigerweise abzusichern. Für eine Aufrechterhaltung des Marktzugangs auf dem heutigen Niveau müssen die aktuellen Verträge in gutem Glauben angewendet und regelmässig aktualisiert werden. Dazu ist die EU ohne InstA nicht mehr bereit.
Die Schweiz hat eine offene Volkswirtschaft, was entscheidend zu ihrer Wirtschaftskraft beiträgt. Eine Einschränkung des Zugangs zum Markt der grössten Handelspartnerin würde diese Offenheit einschränken. Wenn die Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU eines zeigen, dann dies: Die EU macht je länger je weniger Kompromisse, was die Prinzipien des Binnenmarktes angeht.
Auch wenn eine offene Volkswirtschaft gesamtwirtschaftlich unbestrittene Vorteile hat, birgt sie auch Nachteile und Risiken, die für unterschiedliche Branchen und Interessengruppen mehr oder weniger schwer wiegen. Genau hier spielen die ‘massgeschneiderten’ Lösungen in den bilateralen Verträgen eine wichtige Rolle: Diese ermöglichten der Schweiz innenpolitische Kompromisse, mit denen sie bestimmte Branchen (u.a. die Landwirtschaft) und bestimmte Interessengruppen (u.a. die Arbeitnehmer*innen) in einem stärkeren Mass vor Konkurrenz aus der EU schützt, als dies im Binnenmarkt möglich wäre (siehe auch EFTA-Studies Analyse Der sektorielle Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt der EU.
Der Blick auf andere Länder, die nicht EU-Mitglieder sind, aber doch Marktzugang haben, verdeutlicht diesen Vorteil der bilateralen Verträge: Die EWR/EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen haben Zugang zum gesamten Binnenmarkt (siehe auch EFTA-Studies-Analysen zum EWR und werden in diesem Bereich durchwegs gleich behandelt wie EU-Mitgliedsländer. Die Schweiz hingegen hat mehr Spielraum, da der Marktzugang Sektor für Sektor ausgehandelt wird, wobei hin und wieder sogar innerhalb eines Sektors Sonderlösungen möglich sind.
Würden die unter das InstA fallenden Abkommen häufiger revidiert werden als bisher?
Die unter das InstA fallenden Abkommen gehören schon heute zu den Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, die am häufigsten revidiert werden. Dies zeigt die empirische Forschung und erklärt dies damit, dass diese Abkommen den Marktzugang vor allem durch die Vereinheitlichung von Rechtsvorschriften oder die gegenseitige Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit ermöglichen (siehe EFTA-Studies-Analyse Funktionsweise der Abkommen.
Grundprinzip des gemeinsamen Marktes sind gleiche Regeln für alle. Ändern sich die Rechtsvorschriften, muss ein Abkommen zwischen der Schweiz und der EU aktualisiert werden. Sonst behält es zwar seine Rechtskraft, garantiert aber die Gleichbehandlung von Schweizer Bürger*innen und Unternehmen mit EU-Bürger*innen und Unternehmen nicht mehr.
Wenn die Marktzugangsabkommen schon heute vergleichsweise oft revidiert werden, stellt sich die Frage, warum es Regeln zur Rechtsübernahme braucht. Der Grund ist, dass die gängige Praxis den Marktzugang nur sichert, solange die EU und die Schweiz sich tatsächlich darum bemühen.
Mit einem InstA wären zwar wie bis anhin die Gemischten Ausschüsse für die Übernahme von neuem EU-Recht in die Abkommen zuständig. Aber neu wäre klar definiert, in welchen Fällen eine Übernahme für die Schweiz verpflichtend ist. Zudem könnte der Streitbeilegungsmechanismus (ebenfalls Teil des InstA) auch genutzt werden, wenn sich die Schweiz und die EU nicht einig sind, ob eine bestimmte Rechtsentwicklung übernommen werden muss oder nicht.
Die EU könnte die Aufdatierung eines Abkommens nicht mehr verhindern oder verzögern, wie sie es nach der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative mit dem Abkommen über technische Handelshemmnisse getan hat – notabene einem der am häufigsten revidierten Abkommen. Dieses Abkommen, dank welchem sich für zwei Drittel des Handels zwischen der Schweiz und der EU eine Marktzulassungsprüfung auf dem jeweils anderen Markt erübrigt, würde neu dem InstA unterstellt.
Das InstA würde die gängige Praxis rechtlich absichern. Verweigerung oder Verzögerungen wären anfechtbar, auch vonseiten der Schweiz.
Würde ein InstA den politischen Gestaltungsspielraum der Schweiz verkleinern?
Natürlich gilt die Schlussfolgerung aus dem letzten Abschnitt auch umgekehrt – die Schweiz wäre künftig in bestimmten Fällen zur Rechtsübernahme verpflichtet und würde sie diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, wäre das rechtlich anfechtbar. In der Vergangenheit ignorierte die Schweiz zuweilen einfach die Wünsche der EU bezüglich Weiterentwicklung der Abkommen, bspw. in Bezug auf das Personenfreizügigkeitsrecht. Dieser Gestaltungsspielraum würde sich verkleinern. Deshalb lassen sich bei der Beurteilung des InstA die formalen Regeln zur Rechtsübernahme nicht von den Inhalten der Abkommen trennen.
Im Gegensatz zur heutigen Situation würde das InstA allerdings auch regeln, welche Gegenmassnahmen der EU zulässig sind, sollte die Schweiz eine Rechtsübernahme ablehnen. Mit einem InstA müssten solche Massnahmen verhältnismässig sein. Die Verhältnismässigkeit ist ein wichtiges juristisches Prinzip, welches die schwächere Vertragspartnerin – und das ist die Schweiz – weitaus stärker schützt als die stärkere (siehe auch EFTA-Studies-Analyse Die Logik der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU).
Das InstA würde der Schweiz allerdings auch – und das spielt in der öffentlichen Diskussion zu Unrecht eine untergeordnete Rolle – ein Mitspracherecht in der Vorbereitung der EU-Gesetzgebung einräumen. Ähnliche Mitspracherechte ohne Stimmrecht hat die Schweiz auch bei der Rechtsentwicklung in den Bereichen Schengen und Dublin. Erstens bedingt dieses Mitspracherecht, dass schon zu Beginn eines Rechtssetzungsprozesses entscheiden wird, ob ein Rechtsakt für die Schweiz relevant ist. Dies macht den Prozess transparenter. Zweitens bedeutet dies, dass die Schweiz Zugang zu Informationen und Expertisen hat, und selber beides beisteuern kann. Die Schweiz hat in der Vergangenheit zur Genüge bewiesen, dass sie dank geschickter Diplomat*innen und international anerkannter Expert*innen Entscheidungsprozesse auch ohne Stimmrecht in ihrem Sinn beeinflussen kann. Deshalb darf der Wert dieser Mitsprache nicht unterschätzt werden darf.
In dem Sinn ist die Frage nach dem Gestaltungsspielraum nicht eindeutig zu beantworten und muss mit Blick auf konkrete Inhalte und Machtverhältnisse beurteilt werden.
Wie ist die inhaltliche Reichweite des InstA zu beurteilen?
Aus Sicht der empirischen Forschung ist bemerkenswert, dass das Freihandelsabkommen (FHA) von 1972 nicht unter das InstA fällt. Das FHA ist immer noch wichtig für den Marktzugang und eines der in der Vergangenheit am häufigsten revidierten Abkommen.
Die EU möchte das FHA seit einiger Zeit durch ein moderneres Abkommen ersetzen, das auch weitere Bereiche erfasst (zuletzt bekräftig durch den Rat der EU am 19.02.2019. Damit, dass das aktuelle FHA nicht dem InstA unterstellt wird, gewinnt die Schweiz vor allem Zeit. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Die Schweiz würde sich mit der dem InstA beigefügten Absichtserklärung zwar nicht rechtlich zu Neuverhandlungen des FHA verpflichten, aber das Thema bleibt auf der Tagesordnung.
Die Reichweite des InstA auf die in der Öffentlichkeit besonders kontrovers diskutierten Themen der Flankierenden Massnahmen (FlaM) und der Unionsbürgerrichtlinie kann aus Sicht der empirischen Forschung nur beschränkt beantwortet werden.
Wichtig zu bedenken ist, dass die EU sich an den FlaM in ihrer heutigen Ausgestaltung stört und wünscht, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie ins Personenfreizügigkeitsabkommen übernimmt – beides seit Jahren und nicht erst, seit sie im Zusammenhang mit dem InstA diskutiert werden. Ohne InstA könnte die Schweiz die Anliegen der EU weiterhin ignorieren, und die EU könnte darauf reagieren, wie sie es für angemessen hält, ohne dass sich die Schweiz auf die Verhältnismässigkeit berufen könnte.
Mit einem InstA muss die Schweiz sich anders verhalten. In Bezug auf die Unionsbürgerrichtlinie stellen sich juristische Fragen – nämlich ob die Schweiz mit dem InstA überhaupt zur Übernahme der Richtlinie (als Ganze oder teilweise) verpflichtet wäre. Die Freizügigkeitsrechte sind nämlich nicht per Verweise auf die entsprechenden EU-Rechtsakte ins Personenfreizügigkeitsabkommen übernommen worden, sondern durch ähnliche Formulierungen. Die Übernahmepflicht betrifft aber vor allem EU-Rechtsakte, auf die explizit verwiesen wird (für eine juristische Analyse siehe insbesondere Epiney und Affolter im Jusletter vom 11.03.2019.
In Bezug auf die FlaM würde das InstA den Spielraum der Schweiz bei Massnahmen zum Lohnschutz einschränken. Zur Beurteilung dieser Konsequenz darf allerdings nicht vergessen werden, dass es in der Schweiz vor knapp zwanzig Jahren nur eine Mehrheit für die Einführung dieser Lohnschutzmassnahmen gab, weil die politische Linke und die Gewerkschaften ihre Unterstützung für die Bilateralen I als Druckmittel verwenden konnten (siehe EFTA-Studies-Analyse Die Logik der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Würden die bilateralen Verträge bei einer Ablehnung des InstA insgesamt an Bedeutung verlieren, könnte sich auch die Unterstützung für den Lohnschutz verringern.
Die inhaltliche Reichweite darf also weder unter- noch überschätzt werden. Die Themen, welche aktuell zwischen der Schweiz und der EU kontrovers diskutiert werden, bleiben so oder so auf der Tagesordnung. Eine Ablehnung würde nur kurzfristig den Status quo bewahren. Eine Annahme würde in Bezug auf die kontroversen Themen eine juristische Auseinandersetzung zur Folge haben und neue innenpolitische Kompromisse bedingen.
Was heisst das nun insgesamt?
Das InstA verändert den Charakter der bilateralen Verträge nicht grundsätzlich. Die bilateralen Verträge bleiben ein Spagat zwischen Annäherung und Abgrenzung. Das InstA würde die gängige Praxis der Rechtsübernahme regeln und damit verbindlich und transparent machen. Die Schweiz hätte besseren Zugang zu Informationen und dank den Mitspracherechten mehr Einfluss auf den EU-Gesetzgebungsprozess. Die Kontroversen zwischen der Schweiz und der EU würden weder mit einer Annahme noch mit einer Ablehnung des InstA aus der Welt geschafft.
Neue EU-Vorschriften erfordern allerdings auch Politikänderungen, welchen gerade bei den FlaM die legitimen Interessen wichtiger Bevölkerungsgruppen und Regionen entgegenstehen. Um diese Interessen zu schützen, muss wie schon bei den Bilateralen I ein innenpolitischer Kompromiss ausgehandelt werden – Vorschläge hat bspw. der Think Tank foraus gemacht. Ähnliches wird auch für Neuverhandlungen des FHA gelten. Indem es den massgeschneiderten bilateralen Weg konsolidiert, lässt das InstA der Schweiz genügend innenpolitischen Gestaltungsspielraum für neue Kompromisse.
Autorin
Sabine Jenni, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Liechtenstein-Institut
Zitierhinweis
Jenni, Sabine (2019): Institutionelles Abkommen: Was würde sich ändern? Blog. efta-studies.org.
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